Die Magie des Livealbums

Open Air oder aus dem Knast, elektrisch oder unplugged: Livealben sind etwas Besonderes. Wahre Musikfreunde sagen, nur wer eine Band live gehört und gesehen hat, hat sie wirklich erlebt. Und sogar, dass sich Musiker nur nennen darf, wer vor Publikum spielt. Die, die es nicht tun, bestreiten das natürlich.

„Live” ist wie Autofahren ohne Rückwärtsgang: Es gibt kein Zurück. Geht ein Ton daneben, hilft nur Weiterspielen – und hoffen, dass es keiner gemerkt hat. Oder aus dem falschen Faden etwas Großes stricken, wie einst Miles Davis, nachdem Herbie Hancock sich am Klavier vergriff. Dass Mr. Hancock nach dem Blick von Bandleader Miles Davis jemals wieder ein Klavier berührt hat, ist ein musikalisches Weltwunder.Manche Musiker stoßen live ihr Publikum vor den Kopf. Konzerte von Bob Dylan galten seiner Launen wegen als Lotterie mit überschaubaren Gewinnchancen. Die von Axl Rose aus anderen Gründen ebenfalls. Und von Miles Davis sah das vorwiegend weiße Publikum manchmal nur den Rücken.

Als Musiker gute Stücke abzuliefern, ist eben das eine. Das Publikum live mitzunehmen und beim richtigen Konzert einen Könner am Aufnahmegerät zu haben, ist das andere. Aber es gibt sie, die Sternstunden, die das Hören einer Schallplatte fast(!) zum leibhaftigen Erlebnis machen.

Miles Davis, Sea Jazzfestival in Den Haag

So konnten die Rolling Stones auf „Get Yer Ya-Ya´s out“ den „Midnight Rambler“ rau und ungehobelt abliefern, während sich die Beatles zum Bedauern der Musikwelt live selbst im Weg standen. Sie waren wohl am Ende zu perfektionistisch oder zerstritten oder beides.Es gab noch mehr  tanzbare Alben, die sich  in den 70ern in jedem Party-Keller drehten.

Deep Purple legte auf „Live in Japan“ mit den Stücken „Highway Star“ und „Smoke on the Water“ die Latte für Luftgitarre sehr hoch. Der Autor dieser Zeilen bevorzugte das Luftschlagzeug.

War auf dem legendären Woodstock-3fach-Album die Anfangsrille von Ten Years After´s Headshaker „I´m going home“ gefunden, hielt es niemanden auf dem Matratzenlager. Heftiges Haare-Schütteln führte regelmäßig zu unbeabsichtigten astrologischen Erlebnissen.

Meist folgte das für viele beste Livealbum des Rock: The Who „Live at Leeds“. Es entstand aus Geldnot und besteht aus nur 6 Songs. Unter den 40 damals aufgenommenen Konzerten der Band gilt es als die einzige technisch verwertbare Aufnahme. Und das provokante Pinkel-Cover als absoluter Meilenstein. „Mit „Live at Leeds“ haben wir Heavy Metall erfunden“, hat Pete Townsend behauptet. Entscheiden Sie selbst.Ruhiger geht es auf dem kommerziell erfolgreichsten Livealbum aller Zeiten zu. Mit „Unplugged“ schuf Eric Clapton 1992 ein nach den schrillen 80ern wohltuend ruhiges Album. Nach etlichen Schicksalsschlägen brachte es ihn zurück zu „Layla“ und dem Blues. Unplugged“ lieferte die Vorlage für ungezählte weitere Akustik-Alben. Schade, dass es in den Hi-Fi-Studios als Demo-Platte fast zu Tode gedudelt wurde.

 

The Who 1975, © Jim Summars

Ein ebenfalls unvergessenes Konzert lieferte Nirvana 1994 für MTV. Mein Favorit auf „Unplugged” ist die Cover Version von Bowies „The man who sold the world “. Kurt Cobain, der Mann, der es so genial interpretierte, hat diese Welt ein halbes Jahr später verlassen.Leider ähnlich erging es Duane Allmann. Kurz vor seinem Motorradunfall trat die Allman Brothers Band noch live im „Fillmore East“ auf. Das Album präsentierte klassischen Southern-Blues-Rock mit ausgedehnten Improvisationen. Ganze 23 niemals langweilige Minuten sind es bei „Whipping Post“. Wer Blues mag, wird keine Minute bereuen. Die unsterblichen Cover-Fotos der Bandmitglieder und ihren Roadies stammen von Jim Marshall, dem offiziellen Beatles-Photographen.

Livealbum Allmann Brothers Band at Fillmore East

Flotter geht es auf James Browns 1962 im Apollo-Theatre in Harlem aufgenommenen LP zu. In 30 Minuten trieb er Band und Publikum durch 15 schweißtreibende Songs. Je länger die Show dauerte, desto weniger konnte er sich zurückhalten. Spätestens seit „Live At The Apollo“ galt James Brown als der „Hardest Working Man in Showbusiness“.

Heute wirken Feuer spuckende Rock-Monster eher klischeehaft. Aber 1975 spielten sich vier geschminkte Musiker so in Rage, dass es die Zuschauer von den Stühlen und das dazu gehörige Album unter die Top-10 fegte. Auf „Alive!“ tobte Kiss sich den Frust über eine stockende Karriere von der Seele und machte Songs wie Cold Gin, Strutter und Deuce zu ewigen Hard-Rock-Klassikern.

James Brown in Hamburg 1973, ©Heinrich Klaffs

Siebenmal saß Johnny Cash im Knast – zwar nicht als Straftäter, aber zur Ausnüchterung. Dass der „Man in Black” trotzdem ein Herz für Gefängnisinsassen hatte, bewies er mit mehreren Auftritten in Haftanstalten. Live at St. Quentin ist das bekanntere Album.  Aber das erste hinter Gittern aufgenommene Live-Album war 1968 „At Folson State Prison“, aus dem härtesten Knast der USA. Spätestens mit „I shot a man in Reno just to watch him die“ hatte Cash das Publikum auf seiner Seite.

Es gibt unzählige Live-Alben, auch neuere, die die Faszination eines Live-Erlebnisses erahnen lassen. Talking Heads’ „Stop making Sense “, Neil Youngs „Live Rust“, „Mother´s Finest Live“, „Kraan Live“, „Frampton comes Alive” und und und. Es sind nicht immer die großen Bands, die die großen Livealben liefern. Aber diese Auswahl hatte nicht vor, objektiv zu sein. Vieles ist auf Vinyl leider vergriffen, aber eine feine, kleine und komplett subjektive Auswahl finden Sie in Schwerins kleinstem Plattenladen bei Kressmann in der 1. Etage. Viel Spaß beim Stöbern.

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Johnny Cash 1972 in Bremen, © Heinrich Klaffs
Livealbum Johnny Cash at San Quentin